- Anno 2014: Werner Röhr setzt sich mit wichtigen Veröffentlichungen zum ersten Weltkrieg und seinem Beginn
auseinander. - Anno 1914: „Hundert Jahre deutsche Kriegsschulddebatte“ und ihre Bedeutung für heute.
Eine Buchbesprechung
Gegen Ende des Jahres 2022 starb der Historiker und Philosoph Werner Röhr in Berlin mit 81
Jahren. Vor 10 Jahren setzte er sich in seinem Buch „Hundert Jahre deutsche Kriegsschulddebatte“
sehr dezidiert und kompetent mit wichtigen Veröffentlichungen zur Frage nach der Kriegsschuld am
ersten Weltkrieg auseinander. Ein Buch was ganze Bibliotheken zu dieser Frage ersetzt und zu
erschreckenden Erkenntnissen führt. Allein im Jahre 2014, so schreibt Röhr, sind „mehr als 150
Neuerscheinungen über den ersten Weltkrieg“ erschienen. Lange Zeit galt das Buch von Fritz
Fischer, Deutschlands „Griff nach der Weltmacht“ als Standardwerk zur Kriegsschuldfrage. Diese
„in Jahrzehnten errungenen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ versuchte mit immensen „Aufwand
das offizielle Deutschland, das heißt Regierung, Parlament, Institutionen und Verbände der
herrschenden Klassen, seit Ende 1918“ (…) „ zu bekämpfen, zu denunzieren, auszuhöhlen und
schließlich zu begraben.“ Große Bedeutung für den aktuellen neuen Blick auf den ersten Weltkrieg
spricht er dabei „die von den Medien zu Bestsellern hoch gepuschten Bücher“ (…) Christopher
Clarks Die Schlafwandler und Herfried Münklers Der große Krieg zu. Diese „und alle heutigen
Verfechter einer deutschnationalen Wendung in der Geschichtsschreibung über den ersten
Weltkrieg“ unterstellt Röhr in seinem Vorwort „Fischer nachträglich den Krieg erklären und ihn als
Fossil abservieren (zu) wollen.“
Zum Beweis seiner Unterstellung, so Röhr, „ist ein ausgreifender Rückblick erforderlich“. Ein
Parforceritt durch die 100jährige historische und politische Schriftengeschichte, – spannender als ein
Krimi und sehr erkenntnis- und lehrreich. Das Buch von Werner Röhr kann eine Erklärung liefern,
warum unser Verteidigungsminister „Pistorius“ von der zu erlangenden „Kriegstüchtigkeit“ spricht,
auch jenseits der aktuellen Ereignisse. Und warum auch die aktuellen Ereignisse ein neues Bild
vom ersten Weltkrieg brauchen.
So zitiert Röhr im Nachwort seines Buches Herfried Münkler der diagnostizierte „Deutschland habe
2014 strukturell wie 1914 ‚die Last der geopolitischen Mitte‘ zu tragen und die Probleme zu lösen,
die aus seiner faktischen europäischen Hegemonie entspringen. Dies sei allerdings unmöglich ohne
eine endgültige Entlastung von der Kriegsschuld für 1914.“ Und Münkler weiter: „Es läßt sich
kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an
allem schuld gewesen.“ Seit der Wiedervereinigung, so zeigt Röhr auf, findet eine zunehmende
Militarisierung der deutschen Außenpolitik statt, und spätestens auf der Münchner
Sicherheitskonferenz von 2014 beschreibt er eine deutliche Zäsur . „Auf ihr forderten gleich drei
führende Politiker, der Bundespräsident Joachim Gauck, die Verteidigungsministerin Ursula von der
Leyen (CDU) und der Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) mehr militärische
‚Verantwortung‘ für Deutschland.“ Schon 2012/13 arbeiteten die SWP und der German Marshall
Fund ‚Elemente einer außenpolitischen Strategie für Deutschland‘ heraus. In der Studie ‚Neue
Macht – Neue Verantwortung‘ als Ergebnis, „heißt es: ‚Die USA seien nur noch bedingt gewillt, die
internationale Ordnung als Hegemon zu garantieren.‘ Folglich sei global ‚ein Führungsvakuum
entstanden‘. Hier müsse Deutschland mit der EU einspringen […].“ „Weiter heißt es in dem Papier:
„ ‚Da aber wo Störer die internationale Ordnung in Frage stellen, […] wo mit anderen Worten
Kompromissangebote oder Streitschlichtung vergeblich sind: Da muss Deutschland imstande sein
… im Rahmen völkerrechtsgemäßer kollektiver Maßnahmen auch militärische Gewalt
anzuwenden‘, bis hin zum ‚robusten Einsatz von Streitkräften‘.“
Noch vorhandene Reste militärischer Zurückhaltung, so Röhr, in internationalen Konflikten wurden über Bord geworfen.
Herfried Münkler spricht dies deutlich aus: „ ‚Eine Großmacht im Zentrum Europas hatte aufgrund
ihrer geopolitischen Lage nicht die Möglichkeit, sich aus Konflikten herauszuhalten und für neutral
zu erklären, wie dies die Mächte an den europäischen Rändern tun konnten.‘ Münkler rät –
vorderhand am Beispiel Chinas als Parallelfall einer strategischen Mittellage – auf den ‚Griff nach
der Weltmacht‘ nicht zu verzichten, sondern ihn ‚geschickter und umsichtiger vorzunehmen.‘ Zu
diesem Zweck bedarf es nach Münkler nicht nur der Manöverkritik, um Führungsfehler von 1914
zu vermeiden, sondern ebenso der Ablösung von der Kriegsschuld für den ersten Weltkrieg.“
Abschließend schreibt Werner Röhr, „Wenn die deutsche Geschichte ‚normalisiert‘ und das
Bewußtsein von ihr von allen Schuldgefühlen und Schuldeingeständnissen frei geräumt ist, dann
kann nichts die Deutschen mehr daran hindern, ihre Außenpolitik auf ‚Weltmachtniveau‘ (Frank
Deppe) zu heben und in einer Welt voller Kriegsgefahren ‚mehr Verantwortung‘ zu übernehmen.“
So kommentierte Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung, die Kriegschulddebatte von 2014
als eine, die „gerade zur rechten Zeit“ käme, denn „wie vor hundert Jahren klopft der Krieg an die
Pforten Europas, von Nordafrika bis zur Ukraine.“
Werner Röhr wäre heute über die Außen-, Sicherheits- und kriegspolitischen Entwicklungen nicht
überrascht. Dieses Buch ist auch postmortem ein hochaktuelles Buch.
Werner Röhr
Hundert Jahre deutsche Kriegsschulddebatte
Vom Weißbuch 1914 zum heutigen Geschichtsrevisionismus
VSA Verlag Hamburg 2015